Der Tod der Winzigen
von WEI SUN
Gestern sah ich auf meinem Schreibtisch ein winziges Insekt. Es war, von der Kälte erschöpft, zur wärmeren Seite des Tisches gekrochen. Ich wusste, es konnte auf keinen Fall den Winter überleben. Wenn es friert, sterben diese Insekten. Trotzdem wollte ich es nicht stören. Ich zog zum Esstisch um. Ich wünsche ihm eine schöne Zeit am Ende seines Lebens.
Das Insekt erinnerte mich an einen Ausflug 2013. In jenem Jahr lebte ich in Schweden. Im Sommer wohnte ich bei drei Schriftstellerinnen in einem alten Haus auf einer Insel Gotland. Diese Insel liegt im Norden Schwedens. Im Juni wird es nachts fast nicht dunkel. Wir hatten im Dachgeschoss ein privates Kino. Jede helle Nacht schauen wir zusammen die Filme von Ingmar Bergman. Seine Filme waren sehr ausdrucksvoll, aber die meisten Filme verursachten uns wirklich Depressionen. Wir machten deswegen einen Ausflug, um durch und durch den Sonnenschein zu genießen.
Die schwedische Schriftstellerin mietete ein kleines Auto, aber wir konnten uns nicht sofort entscheiden, wohin wir fuhren. Selbstverständlich war Fårö sehr berühmt. Von 1965 bis 2007 wohnte Bergman auf Fårö. Es starb auf dieser unheimlich windigen Insel. Viele Touristen wollen deshalb gerne Fårö besichtigen. Da waren wir ganz anderer Meinung.
Die finnische Schriftstellerin hatte in einem Buch gelesen, dass es auf der Insel Gotland 92 uralte Kirchen gab. “Es wäre interessant, diese Kirchen zu sehen”, sagte sie uns. Wir alle stimmten ihr begeistert zu.
Hinter diesen Kirchen gab es immer viele Grabsteine, die im Sonnenschein sehr ruhig aussahen. Als wir in der siebten Kirche ankamen, spürten wir einen kleinen Unterschied. Irgendwas stimmte nicht. Normalerweise war jeder Grabstein verschieden, aber hinter dieser Kirche gab es etwa 50 Grabsteine, die total gleich aussahen. Nur die Namen darauf waren verschieden.
Wir lasen den Text an der Wand dieser Kirche. So erfuhren wir die dazu gehörige Geschichte.
Im Zweiten Weltkrieg wurden etwa 60 Opfer von einer Organisation aus einem Konzentrationslager befreit. Sie waren schon lange auf der Flucht. Als sie in dieser Kirche ankamen, waren sie nur einige Kilometer vom Ziel entfernt. Leider raffte die Erschöpfung diese Menschen dahin. Die meisten starben hier.
“Es ist ein sehr trauriges Ende dieser Leben”, fanden meine drei Kolleginnen. Meiner Meinung nach war es ein glückliches Ende.
Das Insekt auf meinem Schreibtisch wird in einigen Tagen bestimmt sterben, aber es stirbt unterwegs zum kommenden Sommer.
Die meisten Opfer hatten keine Chance, das Konzentrationslager zu verlassen. Manche hatten auch die Illusion, das sie den Krieg im Konzentrationslager überleben könnten und der Versuch, es zu verlassen, hundertprozentig in den Tod führen würde. Diese etwa 50 Menschen, die unterwegs in die Freiheit waren, die ein paar Kilometer vor ihrem Ziel starben, waren stolz auf ihren Versuch.
Sie waren mutig. Ich glaube, sie waren glücklich, die Luft der Freiheit zu atmen, als sie starben. Seit Jahrzehnten ruhen sie im Sonnenschein nah bei ihrem Traumziel in Frieden.
“Wie kann ein Mensch besser sterben, als einem furchtbaren Schicksal ins Auge zu schauen”, lautet ein Vers von Horaz. Das ist kein Privileg großer Männer wie dem lateinischen Dichter, sondern kann jeden Menschen, der an einem ähnlichen Scheideweg steht, mit Stolz erfüllen.
1, 11, 2020