Eine Karte der Zeit

Ein Roman von Sun, Wei

Der Roman „Eine Karte der Zeit“ schildert die miteinander verwobenen Lebensgeschichten von zwölf ehemaligen Klassenkamerad:innen und entfaltet auf diese Weise ein vielschichtiges Generationenbild des gegenwärtigen China. Das Werk war 2017 ein Bestseller in China und befindet sich derzeit in der Adaption als Fernsehserie – produziert von Tencent Video, einer der einflussreichsten Streaming-Plattformen Chinas mit über 900 Millionen monatlich aktiven Nutzer:innen auf Mobilgeräten.

Zwischen 1989 und 1992 besuchen die Hauptfiguren gemeinsam die Klasse Zwei einer Mittelschule. Es sind Jahre des Vertrauens, der Unschuld und echter Verbundenheit. Zwei Jahrzehnte später – in den 2010er Jahren – sind diese Menschen durch das soziale Gefüge auseinandergerissen: Einige sind aufgestiegen, andere wurden abgehängt. Die ursprüngliche Gleichheit ist durch Klassenunterschiede, Korruption und Ohnmacht ersetzt worden.

Zu den Figuren gehören u. a. ein Funktionär eines staatlichen Großunternehmens, eine Geliebte aus dem Schatten, ein Bauunternehmer am Rande des Bankrotts, ein zurückgekehrter Wissenschaftler, ein Polizist, ein Mönch sowie eine resignierte Lehrerin.

Im Jahr 2012 führt ein soziales Netzwerk – eine chinesische Variante von Facebook – zu einer virtuellen Wiedervereinigung: die „Klasse Zwei“ wird als Chatgruppe reaktiviert. Doch kaum beginnt der nostalgische Austausch, erschüttert eine Mordserie die Gruppe. Einer nach dem anderen sterben die Mitglieder – exakt in der Reihenfolge ihrer Unterschriften im alten Jahrbuch.

Es entwickelt sich ein komplexer Spannungsroman mit Elementen des Kriminal- und Gesellschaftsromans:

4 Autobombenanschläge, die mit aufwendigen Feuerwerksinszenierungen begleitet werden,

7 Verdächtige,

5 konkurrierende Wahrheitsversionen,

15 Tage der Spurensuche,

ein 48-Stunden-Countdown bis zur Offenbarung.

Jede Figur steht unter Verdacht. Jede Biographie wird zur Fallstudie.

Im Zentrum steht Zhou, einst Sohn eines hochrangigen Parteikaders, heute Vizepräsident eines großen staatlichen Immobilienkonzerns – ausgestattet mit nahezu unbegrenzter Macht und Ressourcen. Nach dem Abschluss heiratet er Dai, eine Mitschülerin. Als sie schwanger wird, zeigt die pränatale Diagnostik, dass es ein Junge ist. Während der schweren Geburt muss ein Kaiserschnitt durchgeführt werden. Zhou wird vor die Entscheidung gestellt: das Leben seiner Frau oder das seines Sohnes. Er wählt – ohne Zögern – den Sohn. Dai wird auf ihre biologische Funktion reduziert.

Ye, ebenfalls einst Klassenkameradin, ist seine heimliche Geliebte. Sie sehnt sich nach Anerkennung, einem Kind, einer Familie – doch bleibt im Schatten der öffentlichen Fassade Zhou’s. Ihre Existenz ist von Unsichtbarkeit geprägt.

Liang, der Zhou als Schüler ebenbürtig war, stammt aus einfachen Verhältnissen. Trotz harter Arbeit konnte er sich keinen sozialen Aufstieg erkämpfen. Seine Baufirma steht vor der Insolvenz, und er muss bei Zhou um Aufträge betteln. Zhou weist ihn ab – nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern weil Liang ihn nicht wie andere besticht. Stattdessen degradiert Zhou ihn zum Laufburschen für Ye – als Bedingung für eine minimale Hoffnung auf Rettung.

Als die ehemaligen Mitschüler gemeinsam ein soziales Projekt planen – ein Seniorenzentrum für Klasse Zwei, in dem sie im Alter wieder zusammenleben können – sieht Zhou eine Möglichkeit, seinen eigenen Reichtum zu mehren. Er will das Grundstück zweckentfremden und ein Luxushotel errichten. Mehrere Mitschüler – darunter auch Dai, Ye und Liang – geraten in einen moralischen Konflikt: Kollaboration oder Widerstand?

Noch bevor alle ihre Entscheidung treffen, beginnen die Morde.

„Eine Karte der Zeit“ ist nicht nur ein packender Roman über Schuld, Erinnerung und Macht, sondern zugleich eine scharfsinnige Analyse der sozialen Realität Chinas im frühen 21. Jahrhundert.

Im Zentrum stehen strukturelle Themen wie:

Systemische Korruption: Der Roman zeigt, wie politisches Kapital zur zentralen Ressource wird, die Lebenswege determiniert und soziale Gerechtigkeit unmöglich macht.

Soziale Determination: In China, so legt der Roman nahe, ist das Schicksal eines Kindes bereits mit der Geburt festgelegt – je nachdem, ob es in eine einflussreiche oder einfache Familie geboren wird.

Macht als Religion: Über Generationen hinweg wird politische Macht als übermenschliche Instanz verehrt – vererbbar, gesetzesfern, sakrosankt. Wer sie besitzt, kann ohne Schuldgefühl über andere verfügen.

Genderungleichheit: Der Roman kritisiert auch tief verwurzelte patriarchale Strukturen. Typ-B-Ultraschalluntersuchungen zur vorgeburtlichen Geschlechtsbestimmung, selektive Abtreibung weiblicher Föten, sowie das gesellschaftlich legitimierte Opfer weiblicher Körper zum Erhalt männlicher Erben – all dies wird nicht nur als Einzelfall, sondern als strukturierte Gewalt dargestellt.

Der Roman verurteilt nicht nur die Verbrechen Einzelner, sondern das System, das sie hervorbringt – und die seelische Verrohung, die sie begleitet. Sun Wei gelingt damit ein literarisch anspruchsvolles, vielschichtiges Werk, das sich mit klassischen Gesellschaftsromanen messen kann – und dabei zugleich die Wunden einer Gegenwart offenlegt, die noch lange nicht verheilt sind.