Katzendämon auf der Flucht
Wei Sun
Seit Hunderten von Jahren leben Katzendämonen insgeheim unter den Menschen. Auch die japanische Schriftstellerin Toyo Shibata ist in Wahrheit ein Nekomata, eine Katze in Menschengestalt. Als ein anderer Nekomata einen Scherz darüber macht, dass die Dämonen bereits in der Regierung sitzen, hat er offenbar einen Nerv getroffen, denn die Behörden beginnen einen Vernichtungsfeldzug. Toyo Shibata flieht um die ganze Welt – und fragt sich immer mehr, wer die wahren Dämonen sind.
Vielleicht werde ich in der nächsten Minute mit einem elektrischen Schlagstock niedergeschlagen, in einen Müllsack gesteckt und unter den Blicken fremder Reisender vom Flughafen weggeschleppt. Wenn das passiert, kann ich nur noch beten, dass ich nicht allzu grausam getötet werde. Vielleicht habe ich aber auch Glück und komme noch einmal durch und lebe danach tausend Jahre.
Bei der Eröffnung des Flughafens Tokio-Haneda im Jahr 1931 war ich dabei und konnte einen kurzen Blick hinein werfen in den riesigen Raum ohne Nacht mit seiner hohen Decke und den 24 Stunden auf volle Helligkeit gestellten Lichtern. Heute, 92 Jahre später, stehe ich unter denselben Lampen und bin geblendet wie bei einem Polizeiverhör. Das Licht ist so grell, als sollte es mich ersticken.
Ich bin schon fast durch die Sicherheitskontrolle, da sehe ich, wie der Bordkoffer des alten Herrn vor mir geöffnet wird und ein Nerzmantel zum Vorschein kommt. Es ist eigentlich kein Nerzmantel, sondern ein Katzenpelz. Das weiß ich ganz genau. Ich bin verärgert. Wie kann dieser Idiot so etwas mitbringen, das unsere Identität verrät. Es war verrückter, als mit einer Bombe im Koffer zum Flughafen zu kommen. Andererseits kann ich es ihm nicht verübeln. Es ist der Körper seiner Frau und die einzige Erinnerung an sie, die es auf der Welt noch gibt.
Die Polizei kommt von allen Seiten wie aus dem Nichts. Der alte Herr lässt sich zu Boden fallen, noch bevor es zu elektrischen Schlagstockhieben kommt. Aber sie treffen ihn hart und oft und schon fließt sein grünes Blut auf den glatten, glänzenden Flughafenboden, wie eine grüne Wiese, die in der hellen Frühlingssonne wild aufwächst. In dem Gewühl wird meine Stirn zweimal getroffen und eine feurige Flüssigkeit fließt über mein Gesicht.
Ich bin ein Katzendämon und bin in Tokio geboren und aufgewachsen. In Japan leben viele unserer Spezies unter den Menschen in der gleichen menschlichen Form wie ich. Drei japanische Hauptarten von Katzendämonen gibt es, eine davon heißt Bakeneko. Doch diese können nur auf allen Vieren gehen, auch wenn sie die Gestalt eines Menschen annehmen. Die einzige Möglichkeit, sich anzupassen, besteht für sie darin, einen Menschen zu fressen, damit sie dessen Körper übernehmen können – dieser Zauber bricht zwar ein Tabu, aber nach und nach gingen den Bakenekos die anderen Optionen aus. In den vergangenen tausend Jahren haben die Menschen die Erde bevölkert, und es liegt in ihrer Natur, alle intelligenten Wesen, die anders sind als sie, zu töten. Das Fressen von Menschen wurde für die Bakenekos fast die einzige Möglichkeit zu überleben.
Maneki-nekos sind wahrscheinlich die bekanntesten japanischen Katzendämonen und die von den Menschen am meisten geliebten. Sie nicken und lächeln und heben die Hand, um allem und jedem ihre Zustimmung zu geben. Bei den Menschen gibt es ähnliche Typen, die wir yes-men nennen, die wenig eigenständig denken und sich der Meinung anderer anschließen. Aus diesem Grund haben die Menschen, obwohl die Maneki-neko intelligente Wesen sind, die sich von den Menschen völlig unterscheiden, nicht die Absicht, sie zu beseitigen. Sie brauchen nicht einmal die menschliche Gestalt anzunehmen, um sich unter die Menschen zu mischen. Lange Zeit konnten sie als lächelnde Katzendämonen in der Menge existieren, bis sie nur noch leblose Porzellanfiguren waren, die von den Menschen vor Geschäften und Restaurants aufgestellt wurden. Immerzu winken sie mit der linken oder rechten Pfote und sollen den Menschen und ihren Geschäften Glück bringen.
Ich bin ein Nekomata, und wir sind die zahlreichste Art. Wir können uns in Menschengestalt verwandeln und auf zwei Beinen laufen. Wir bewegen uns unter den Menschen durch die Straßen des überfüllten Tokio, quetschen uns in die U-Bahn, pendeln zur Arbeit, gehen in Matsuya und Daimaru einkaufen, saufen in Bistros und gehen am Wochenende spazieren, um die Kirschblüte zu genießen. Wir haben sogar Personalausweise, Bankkonten und Sozialversicherungen. Außer der Tatsache, dass unser Blut grün ist, gibt es nur weniges, was uns von den Menschen unterscheidet. Moment, fast hätte ich den wichtigsten Unterschied vergessen. Legenden aus der Kamakura-Zeit seit 1185 beschreiben uns als Katzendämon mit zwei Schwänzen. Wir haben keine zwei Schwänze. Das war wahrscheinlich anfangs nur eine Metapher für den ersten Autor, der unsere Geschichte erzählte und vermitteln wollte, dass wir anders sind.
Wir passen uns nicht an. Wir denken immer sehr individuell und selten wie andere, deshalb können wir nicht wie Menschen in einer Gruppe zusammenleben. Bestenfalls verstecken wir uns in der Menge der Menschen, um nicht so aufzufallen. Diese Fähigkeit, anders zu denken, prädestiniert uns für die Berufe, die in der menschlichen Gesellschaft von Schriftstellern, freiberuflichen Medienschaffenden, Rechtsanwälten, Selbstständigen, Professoren und so weiter ausgeübt werden. Doch genau diese Fähigkeit ist die Ursache für unseren jüngsten Niedergang.
Einer von uns, ein erfolgreicher Stand-up-Comedian namens Tanaka, machte eines Tages einen Witz auf seiner Facebook-Seite: »Haruki, der schon immer ein Pazifist war, befürwortet nun aktiv eine massive Erhöhung der Militärausgaben. Seine jüngsten perversen Äußerungen und Handlungen wirken, als sei er von einem Bakeneko besessen.«
Tanaka ist ein humorvoller, über 600 Jahre alter Nekomata, der seit zehn Jahren als rundlicher Mann in seinen Vierzigern lebt, seit er eine schöne Menschenfrau heiratete. Haruki, den er in diesem Witz erwähnte, ist Vizepräsident des Sangiins, des obersten Senats, und seine Amtszeit beträgt noch mindestens fünf Jahre.
Wäre es ein Mensch gewesen, der einen solchen Witz erzählt, wäre wahrscheinlich nichts passiert. Aber leider ist Tanaka ein Nekomata. Er wurde sofort verhaftet. Seine Frau erhält keine Nachricht von der Polizei, auch seine Anwälte haben keinen Zugang zu ihm. Niemand weiß, wo er festgehalten wird oder ob er schon exekutiert worden ist. Es war ein heißer Spätsommer, als er verschwand, jetzt haben wir eiskalten Frühwinter.
Das Schlimme ist, dass er kein Mensch ist, obwohl er viele Jahre als Mensch lebte und jeden Monat Beiträge in die Sozialversicherung und Krankenkasse einzahlte. Seit sie ihn abgeholt haben, hat er keinerlei gesetzliche Rechte mehr, und während seine Frau die Polizei immer wieder anfleht, man möge ihm doch eine Winterdecke bringen, ist es möglich, dass sein Fell schon zu einer weichen Katzenpelzdecke verarbeitet wurde, mit der in kalten Nächten ein Polizist sich wärmt.
Wie ich schon andeutete, sind wir Nekomatas Einzelgänger und kümmern uns nicht um das Schicksal der anderen. Trotzdem kam es vor, dass ich mitten in der Nacht an Tanaka dachte und dann zwei Minuten lang Schüttelfrost hatte. Aber das war’s dann auch schon.
Wenige Tage nach Tanakas Verhaftung flog ich wegen eines Schreibprojekts nach Neuseeland. Ja! Ich bin Schriftstellerin und ich schreibe Liebesromane. Seit 300 Jahren lebe ich, und die vergangenen zwanzig Jahre lebe ich als junge Frau, denn vor fünfzehn Jahren heiratete ich meinen jetzigen Mann. Er ist ein Mensch, ein Anwalt.
Hauptsächlich begab ich mich nach Neuseeland, um dem Winter zu entfliehen. Die Körpertemperatur einer Katze ist ein wenig höher als die eines Menschen, daher leiden wir besonders unter der kalten Jahreszeit. Nach den Schüttelfrostnächten in der Folge des Tanaka-Vorfalls wollte ich der Umgebung entfliehen, die mich frösteln machte. In Neuseeland war Hochsommer. Wie schön.
Mein Mann fuhr mich, wie schon oft, zum Flughafen Tokio-Haneda. Bevor ich durch die Sicherheitskontrolle ging, umarmten wir uns. »Mein liebes Kätzchen«, sagte mein Mann – Kätzchen ist der Kosename, den er für mich hat, »genieße den Fisch und die Meeresfrüchte in Neuseeland.«
Als ich in Auckland landete und mein Handy wieder einschaltete, erhielt ich mehrere Nachrichten von einem mir unbekannten Facebook-Konto. Es gehörte einem Japaner namens Itou aus Hokkaido. Er gab an, eine Gruppe zu leiten, die sich unmittelbar nach dem Tanaka-Vorfall unter den Nekomatas organisiert hatte. Sie wollten nicht nur Tanaka finden, sondern auch die Welt auf den derzeitigen Zustand des Tierschutzes in Japan aufmerksam machen und der wahllosen Abschlachtung von Katzendämonen ein Ende bereiten. Sie erwarteten zwar nicht, dass ich mich ihnen anschloss, aber sie baten mich, ihnen zu helfen, ihrem Anliegen, ihren Aktionen und Demonstrationen internationale Geltung zu verschaffen.
Vielleicht wegen der Wärme Neuseelands, dem frischen Duft der Meeresbrise oder vielleicht, weil das fremde Land mich entspannte und es hier niemanden interessierte, ob ich ein Mensch oder ein Katzendämon war, wurde ich ein bisschen übermütig. Ich trat der Facebook-Gruppe bei und lernte auf einen Schlag siebzehn fremde Nekomatas kennen. Unter anderen waren das:
Altkrähe, über 600 Jahre alt (ebenso alt wie Tanaka), arbeitet seit fünfzig Jahren für eine Filmgesellschaft, ist in den Film verliebt. Deshalb musste er das Aussehen eines siebzigjährigen Mannes annehmen.
Prinz, ungefähr 300 Jahre alt, hat in frühen Jahren ein Vermögen in der Internetwirtschaft gemacht und sein Motto lautet: »Lasst mich bezahlen.«
Hübsche-Mutter, über 200 Jahre alt, arbeitet als Buchhändlerin. (Es ist ungewöhnlich für Nekomata, einen so langweiligen Job auszuüben. Wahrscheinlich muss sie Geld verdienen, um ihre Tochter zu ernähren.)
Ebenfalls einen langweiligen Job macht Superheld, ein 200-jähriger Nekomata, Angestellter bei einer Hausverwaltungsfirma, der einen Sohn und eine Tochter hat.
Katzendämonen können mit Menschen überhaupt keine Kinder bekommen. Katzendämonen untereinander können zwar Kinder bekommen, jedoch sind diese nur normale Katzen und können niemals ein menschliches Aussehen annehmen. Dies hat seinen Grund in der Genese von Katzendämonen.
Katzendämonen entwickeln sich aus gewöhnlichen Katzen. Diese haben in der Regel weniger als zwanzig Jahre zu leben. In dieser Zeit können sie aber versuchen, zu lernen und Prüfungen abzulegen. Wenn sie die Prüfungen vor ihrem Tod bestehen, ist dies vergleichbar mit einem Abitur. Dann sterben sie nicht wirklich, sondern werden von ihrem ursprünglichen Körper befreit und leben für eine gewisse Zeit, die oft zwischen dreißig und fünfzig Jahre dauern kann, als Einsiedler in einem Wald oder einem Kloster, um zu studieren. Während dieser Zeit werden sie langsam zu Maneki-nekos, Nekomatas oder Bakenekos, und es liegt nicht an ihnen selbst zu entscheiden, was sie werden wollen, es ist ein im innersten Inneren der Natur verankerter Prozess. Aber wenn sie dann endlich Menschen geworden sind, wissen sie noch nichts über die menschliche Gesellschaft. Also müssen sie zuerst die Gestalt von Kindern annehmen, von Findelkindern, und hoffen, von einem Waisenhaus aufgenommen zu werden. Später werden sie dann vielleicht von richtigen Menschen adoptiert und bekommen, wenn sie Glück haben, im Alter von achtzehn Jahren einen echten menschlichen Personalausweis.
Hübsche-Mutter und Superheld haben Kinder, das heißt, sie müssen fremde Nekomatas an Kindes statt angenommen haben. Außerdem können wir davon ausgehen, dass ihre Ehepartner ebenfalls Nekomatas sind, denn diese Kinder sind nicht in der Lage, ihre Identität rund um die Uhr zu verbergen. Nur wenn beide Eltern Nekomatas sind, kann es ihnen gemeinsam gelingen, unentdeckt zu bleiben. Das Zusammenleben mehrerer Katzendämonen widerspricht all unseren Lehren und Gepflogenheiten, denn es bedeutet permanente Lebensgefahr. Was für ein Abenteuer!
Wie Sie bereits wissen, leben und denken wir alleine. Während die Menschen schlafen, studieren wir. Wir lauschen den Geräuschen des Himmels, des Windes und der Bäume, die sich für Menschen so anhören, als hätten sie sich seit Milliarden von Jahren nicht verändert. In Wirklichkeit aber haben sich dort die Aufzeichnungen und die Weisheit von Generationen von Katzendämonenprofessoren eingeprägt, von denen die meisten schon seit vielen Jahren tot sind. Wir treffen keine Kommilitonen, auch unseren Professoren begegnen wir nie und wissen nur eines mit Gewissheit: dass wir niemals mit unseresgleichen zusammen sein sollten, da dies das Risiko erhöht, von Menschen gefunden und getötet zu werden.
Waren diese siebzehn Katzendämonen von allen guten Geistern verlassen? Sie planten ernsthaft, zwei Wochen vor Weihnachten eine Demonstration im Zentralpark Shinjuku abzuhalten.
Ich wohnte damals in Devonport, einem kleinen, vom Ozean umspülten Ort. Das Haus, in dem ich untergebracht war, ist Teil des literarischen Zentrums und befindet sich auf einem erloschenen Vulkan. Jeden Abend ging ich hinaus in die üppige Vegetation, sah hinunter auf die Erde und das Meer und hörte mit kalten Ohren den Sitzungen der Gruppe zu.
Sie arbeiteten an den Losungen, die sie auf Transparente und T-Shirts drucken wollten:
»Gebt Tanaka seiner Frau zurück! Tot oder lebendig!«
»Wir leben und arbeiten wie Menschen und wir wollen Rechte wie Menschen!«
»Wir teilen Schmerzen und Freude der Menschen, aber nicht ihre Rechte!«
»Katzendämonen haben nur menschliche Pflichten, aber keine menschlichen Rechte. Warum?«
»Ist es gesetzlich verboten, über Haruki und Bakeneko zu sprechen?«
»Politiker, habt ihr ein Herz? Oder seid ihr alle von Bakenekos besessen?«
»Lasst Tanaka frei! Lasst ihn nach Hause gehen!«
Und einmal veränderte sich plötzlich der Klang ihrer Stimmen. Nach einem Moment der Stille brachen Prinz und Hübsche-Mutter gleichzeitlich in Tränen aus. Ich weiß nicht, ob auch die anderen lautlos weinten. Allein Itou fasste sich und schlug einen fröhlichen Ton an: »Lasst uns singen«, sagte er. »Jeder ein Lied. Von nun an müssen wir bei jeder Sitzung singen.« Er stimmte sofort ein Lied an. Aber da er überhaupt nicht singen konnte, blieb es allen verborgen, welches Lied da erklang. Er hatte keine schöne Stimme. Sie klang sehr nasal. Vielleicht hatte auch er vorher leise geweint.
Auf den ersten Blick war es erstaunlich, dass ausgerechnet Itou, der Jüngste von allen, zum Gruppenleiter bestimmt worden war. Wahrscheinlich war er nur knapp hundert Jahre alt. Seine Stimme hatte noch den kindlichen Klang eines Kätzchens, und wenn er es eilig hatte und sich vergaß, miaute er manchmal einfach los. In der Gruppe kursierten zahlreiche Witze darüber. Er schien sich nie um irgendetwas zu sorgen und war herzlich und arglos zu jedermann. Er war Ingenieur, arbeitete für eine große Firma und hatte eine Frau, die offenbar auch ein Nekomata war, denn sie hatten einen Sohn und eine Tochter. Manchmal dachte ich, die anderen Nekomatas hätten diesen Grünschnabel zum Gruppenleiter gewählt, weil dies der gefährlichste Posten war. Andererseits war vielleicht genau diese stürmische, jungenhafte Naivität die einzige Möglichkeit, eine Gruppe von Nekomatas überhaupt zusammenzubringen.
Wie auch immer – alle taten, was er sagte. Sogar auf das regelmäßige Singen bei den Sitzungen ließen sie sich ein. Noch nie in meinen 300 Jahren habe ich so viele Nekomatas ohne musikalische Ausbildung singen gehört. Es tat mir in den Ohren weh und ich musste lachen, jeden Abend, wenn ich ihre Gesänge hörte.
Nach einer der Sitzungen sprach Itou mich privat über den Messenger an.
»Warum singst du nie? Bei der nächsten Sitzung solltest du auch mal ein Lied singen.«
»Also, ich singe nie.« Ich versuchte, höflich zu bleiben und ärgerte mich über seine Anmaßung.
»Kannst du nicht singen? Keine Sorge, mit YouTube kannst du es schnell lernen!«
»Ich meine, ich singe nicht gerne.«
Ich bin nicht nur ein 300 Jahre alter Nekomata, sondern auch eine berühmte Autorin mit einer riesigen Zahl von Fans. Wie könnte ich auf die Idee kommen, so etwas Kindisches zu tun wie singen? Aber Itou war hartnäckig.
»Singen wird dich glücklich machen. Du sprichst mit einer so schönen Stimme, also kannst du auch singen. Ich habe ein Lied für dich ausgesucht, das zu deiner Stimme passt.«
Widerwillig klickte ich auf den Link, den er mir geschickt hatte. Dahinter verbarg sich ein YouTube-Video. Es zeigte ein altes Lied von 1956, das in dem Film »Der Mann, der zu viel wusste« von Doris Day gesungen wird. Wie konnte er nur denken, ich würde so einen klischeehaften und kitschigen Popsong singen, ein Lied für kleine Mädchen?
»Lass dir Zeit und überstürze nichts. Wenn du es einmal gelernt hast, kannst du es mir gerne allein vorsingen, zum Üben.« Mein Schweigen missverstehend, ermutigte er mich weiter: »Keine Angst! Du schaffst das. Ich habe auch alle meine Lieder mit YouTube gelernt.«
Ich fragte ihn, woher er überhaupt wusste, dass auch ich ein Nekomata sei. Nun stellte sich heraus, dass er ein Fan von mir war und viele meiner Bücher gelesen hatte. »Ich halte es für unmöglich, dass du bei all deinen ausgefallenen Ansichten und Ideen etwas anderes als ein Nekomata bist.« Naja, ganz dumm schien er nicht zu sein.
»Was machst du Schönes?« Mein Mann rief an.
»Einen neuen Roman habe ich noch nicht angefangen, aber ich genieße die frischen neuseeländischen Austern.« Ich wagte nicht, ihm zu sagen, worauf ich mich einließ. Er würde wütend werden, dass ich mich in Gefahr begab.
»Denke so wenig wie möglich und sage so wenig wie möglich.« Das sagte er immer. Diesmal fügte er hinzu: »Mach vor allem keine Bemerkungen über Haruki und Bakeneko, Kätzchen. Das ist zurzeit ein Thema, das man nicht anfassen darf.«
Zwei Wochen später fand die Demonstration wie geplant im Zentralpark Shinjuku statt. Alle Mitglieder der Gruppe waren angereist und mehr als 200 weitere Katzendämonen waren aufgrund unserer Bekanntmachung bei Facebook gekommen. Alles lief nach Plan. Auch die ausländischen Medien, die ich kontaktiert hatte, darunter Reuters, waren vor Ort. Sie fotografierten, filmten und machten Interviews. Hübsche-Mutter dokumentierte die komplette Demonstration auf dem Account unserer Facebook-Gruppe.
Doch kurz vor dem Ende brach plötzlich der Livestream ab und ihr Avatar ging offline. Ich hatte ein mulmiges Gefühl. Zwei Stunden später postete Altkrähe in die Gruppe, dass fast fünfzig Katzendämonen verhaftet worden waren. Er selbst war nur durch Glück und Zufall entkommen. Aber gegen 23 Uhr japanischer Zeit hinterließ er die Nachricht, dass er gerade die elektronische Aufforderung von der Polizei erhalten hatte, sich innerhalb einer halben Stunde auf der zuständigen Polizeistation zu stellen. Soweit er wusste, hatten mindestens zwanzig Katzendämonen dieselbe Mitteilung erhalten, darunter Superheld und auch solche, die spontan zur Demonstration gekommen waren.
Prinz postete: »Gebt unbedingt Bescheid, wenn ihr morgen von den Polizeistationen nach Hause kommt.« Danach herrschte drei volle Tage und Nächte lang Schweigen. Spät in der Nacht, um 23 Uhr, sind die meisten Lebewesen am empfindlichsten. Was genau ist seither mit den Katzendämonen passiert, die zur Polizei gegangen sind? Fieberhaft durchforschte ich alle Adressen und Konten, mit denen die Verschwundenen in Kontakt standen, aber sie waren wie vom Erdboden verschluckt, verschwunden wie Tanaka.
*
Am vierten Tag erschien Itou in der Gruppe. Er berichtete, dass sie ihn mit elektrischen Schlagstöcken schwer misshandelt hatten, dass es ihm aber gelungen war, sich in seine ursprüngliche Katzengestalt zu verwandeln und über die Wiese ins Gebüsch zu entkommen. Dort muss er wohl eine Zeitlang ohnmächtig gewesen sein. Aber er war jung und er hatte die Kraft, wieder zu dem zu werden, den wir kannten, und zu seiner Familie nach Hokkaido zurückzukehren.
Unmittelbar danach meldete sich Prinz: »Ich verstehe das nicht. Die Demo war doch angemeldet und wir hatten eine Genehmigung. Warum haben sie das getan? Was haben wir falsch gemacht?«
Ich hatte den Grund bereits erraten. Kurz nachdem die Verhaftungen begannen, erhielt ich von meinem Freund bei Reuters einen Link zu seinem Artikel und den Fotos, die er von der Szene gemacht hatte. Einige der Transparente, die die protestierende Menge damals im Zentralpark Shinjuku hochhielt, enthielten diese beiden Losungen:
»Ist es gesetzlich verboten, über Haruki und Bakeneko zu sprechen?«
»Politiker, habt ihr ein Herz? Oder seid ihr alle von Bakenekos besessen?«
Ich hatte davon abgeraten, diese Parolen zu präsentieren, da mein Mann mich genau davor gewarnt hatte. Haruki und Bakenekos seien derzeit ein gefährliches Tabu. Aber wie mir Itou nun erklärte, waren so viele Katzendämonen gekommen, dass die anderen Transparente nicht ausreichten, und diese schließlich doch verwendet wurden. Wenige Minuten nachdem man sie entrollt hatte, begann die brutale Polizeiaktion.
Aus meiner nicht allzu langen, aber immerhin 300-jährigen Erfahrung weiß ich eines ganz genau: Das Tabu, das die Behörden so nervös macht, ist die Wahrheit. Höchstwahrscheinlich hatte Tanaka mit seinem Scherz genau ins Schwarze getroffen, und ebenso sprachen die beiden Losungen auf den Transparenten die Wahrheit: Bakenekos verfügen im Allgemeinen nicht über eine dem Menschen vergleichbare Intelligenz, und ihr Leben ist nicht immer garantiert, weil sie keine menschliche Gestalt annehmen können, außer durch Mord. Wenn die Behörden sie also anheuerten, um ihre verborgene und verbotene Zauberkraft für ihre Zwecke zu nutzen, wenn sie also dafür sorgten, dass sie die Herrschaften im Rathaus, einschließlich Haruki, auffräßen und in deren Gestalt weiterlebten und willfährige Knechte der Behörden würden, wäre dies ein durchaus erfolgversprechender Plan.
Ich war erschöpft von Trauer und Ohnmacht und wollte nichts als schlafen.
Da schreckte mich eine Facebook-Nachricht aus dem Bett. Prinz hatte sich gemeldet. Ein Insider hatte ihm gesteckt, dass die Staatssicherheit mit einem starken Aufgebot nach Hokkaido aufgebrochen war, um Itou zu verhaften. Spätestens in einer Stunde wäre sie vor Ort.
Hatte das Massaker nun begonnen? Würden die Behörden nun jeden töten, der in der Lage war, die Wahrheit zu erraten? Hastig fragte ich: »Hast du ihn gewarnt?«
»Nein, natürlich nicht.«
Ich verstand sofort. Wohin sollte er denn fliehen? Der gesamte Polizeiapparat würde ihn jagen. Und selbst wenn er sich in eine Katze zurückverwandelte – sie würden jede streunende Katze töten und jede Hauskatze kontrollieren, bis sie ihn gefasst hätten.
Eine Stunde, um zu fliehen, sich zu tarnen, Japan zu verlassen, war eindeutig nicht genug. Es war wahrscheinlich das Beste, ihn seine letzte Stunde ohne Angst in der Ruhe des Atmens verbringen zu lassen.
»Ich möchte dir nur sagen«, fügte Prinz hinzu, »dass du ihm in dieser Stunde alles sagen kannst, was du ihm sagen möchtest.«
Ich klickte auf Itous Facebook-Avatar. Er war online und neben seinem Avatar stand ein grüner Punkt. Mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können. Ich tippte und löschte und tippte und löschte. Am Ende starrte ich nur noch auf den Avatar und hörte die Uhr ticken, tick, tick.
Tick, tick, tick.
Eine Stunde später änderte sich der Zustand seines Avatars in »kurzzeitig abwesend«. Ich hielt den Atem an. Ich konnte fast spüren, was auf der anderen Seite des Internets geschah.
Kurz danach kam eine weitere private Nachricht von Prinz: »Die Polizei sucht auch nach dir. Superheld hat deinen Namen gestanden. Sie haben ihn gefoltert. Zum Glück bist du im Ausland. Komm nie wieder zurück. Komm nie wieder zurück.«
»Danke, dass du es mir gesagt hast.« Mir fiel ein, dass mein neuseeländisches Visum nur noch drei Wochen gültig war.
Und dann wieder Prinz: »Es wird nicht lange dauern, bis sie auch nach mir fahnden. Die Behörden haben noch nie einen Vorfall so ernst genommen. Bei nächster Gelegenheit versuche ich, mit meinem Privatjet abzuhauen. Ich hoffe, es klappt.«
Ich wünschte ihm viel Glück und sprach die Hoffnung aus, dass wir uns vielleicht einmal persönlich kennenlernen würden.
*
Die Nächte in Neuseeland sind lang. Weihnachten stand vor der Tür, und überall waren Feriengäste. Sie schwammen im Meer und campten am Strand und genossen den Sommer in vollen Zügen. Ich schaute lange auf Itous Facebook-Avatar. In seinem privaten Dialog mit mir gab es nur diesen einzigen Link auf dieses dumme Lied, das er mich singen hören wollte. Ich klickte auf den Link.
Que será, será
Whatever will be, will be
The future’s not ours to see
Que será, será
Diese überhebliche menschliche Frau singt, während sie sich um die Betten in ihrem palastartigen Haus kümmert und das amerikanische Lebensideal verkörpert.
Ich wollte lachen über dieses lächerliche Lied, aber plötzlich liefen mir die Tränen aus den Augen, wie der Sumida, der über die Ufer tritt. Der Status seines Avatars blieb auf »kurzzeitig abwesend«, als würde er im nächsten Moment zurückkehren, um sich wieder an den Computer zu setzen und mit seiner lustigen Stimme unsere Sitzung zu moderieren. Ich versuchte erneut, etwas in das Dialogfeld zu schreiben, aber am Ende änderte ich einfach nur meine Facebook-Signatur in:
»Ich schulde dir noch ein Lied. Jederzeit singe ich es dir gerne vor.«
Nach vier Tagen und drei Nächten ging sein Avatar offline. Wahrscheinlich war nun der Akku seines Handys endgültig leer. Dann überlegte ich, wie ich fliehen könnte.
Mein Freund bei Reuters ist auch ein Nekomata. Sein Name ist Yamada. Er liebt meine Romane und hat mich schon oft interviewt. Von ihm erfuhr ich von einer internationalen Tierschutzorganisation mit Sitz in London, die WARP heißt, World Animal Rights Protection. Diese Organisation könnte in der Lage sein, mir eine Zuflucht zu bieten, beziehungsweise eine Unterkunft und Zugang zu Nahrungsmitteln in Europa oder sogar einen dauerhaften Aufenthaltsstatus außerhalb Japans.
Inzwischen hatte ich auch selbst zwei internationale Tierschutzorganisationen mit Zentralen in Los Angeles und Köln gefunden: IAFH, International Animal Freedom House, und AfTiE, Asyl für Tiere im Exil. Ich bewarb mich online bei beiden Organisationen, und dann blieb mir nur noch das lange, stille, verzweifelte Warten.
Vielleicht denken Sie, dass ich als Nekomata, der seine Gestalt in gewissen Grenzen verändern kann, überhaupt keine Angst haben müsste, entdeckt zu werden. In Wirklichkeit ist das Leben eines Nekomatas allerdings viel härter als das eines Menschen. Um ein menschliches Aussehen zu bewahren, müssen wir Nekomata Nacht für Nacht studieren, und eine quantifizierbare Leistung erbringen, um etwas zu erwerben, was mit den Credit Points an menschlichen Universitäten vergleichbar ist.
Die Beibehaltung einer menschlichen Gestalt kostet Tag für Tag eine ganze Menge solcher Credit Points. Und wenn ein Nekomata länger in der menschlichen Gesellschaft leben möchte, wenn er zum Beispiel, so wie ich, mit einem menschlichen Ehemann verheiratet ist, muss er sein Altern dem der Menschen anpassen, und solche kleinen Veränderungen verursachen zusätzliche Kosten. Die Umwandlung in eine komplett andere menschliche Gestalt wäre praktisch unbezahlbar. Sobald die Credit Points aufgebraucht sind, muss der Nekomata sterben.
Als könne ein Nekomata am mühelosesten leben, wenn er sich in eine Katze zurückverwandelt. In der Tat, ein solches Leben würde nichts kosten, aber er würde innerhalb weniger Tage den Zugang zu allen seinen Credit Points, die er bis dahin angespart hätte, verlieren. Seine Intelligenz würde herabsinken auf das Niveau einer Katze, er könnte nur noch miauen, und nach einigen wenigen Katzenjahren wäre er tot. Der Nekomata hingegen kann Tausende von Jahren leben, wenn er nur immer weiter studiert und Credit Points sammelt. Aber was ist das Ende und das Ziel einer nekomatischen Existenz? Eine anerkannte Theorie besagt, dass sich ein Nekomata schließlich in einen echten Menschen verwandelt. Wie viele Credit Points dafür nötig sind, wie viele Jahre es dauert oder welche besonderen Bedingungen erfüllt sein müssen, hat noch nie jemand mit Sicherheit sagen können, und es ist auch noch nie ein solches Ereignis bekannt geworden.
Um auf meine eigenen Probleme zurückzukommen: Ich wollte nicht sofort sterben. Genauso wenig wollte ich mich in eine Katze zurückverwandeln, um ein paar Jahre lang als miauende Idiotin den Menschen um die Beine zu streichen. Ich wollte meine Identität als Toyo Shibata nicht aufgeben.
Wenn der Morgen dämmerte und sich die fröhliche Menge endlich verzogen hatte, lief ich allein an der langen Küste entlang und hörte immer wieder vom Handy auf YouTube dieses dumme Lied.
Whatever will be, will be
The future’s not ours to see
Que será, será
Keine der drei Organisationen antwortete mir, und der Tag, an dem mein Visum ablief, rückte immer näher.
Schließlich blieb mir nichts anderes übrig, als meinem Mann zu gestehen: Ich habe alles vermasselt. In Japan wartet die Polizei auf mich. Alles ist zu Ende.
Mein Mann sagte: »Komm sofort zurück. Ich kann dich beschützen.«
Ich antwortete nicht.
Er sagte: »Ich bin mir sicher.«
Ich sagte: »Du hast keine Ahnung.«
Zum ersten Mal in den zehn Jahren unserer Ehe sprachen wir über Katzendämonen. Er hatte Beziehungen zu den höchsten Kreisen der japanischen Gesellschaft und versicherte mir, dass die Existenz von Katzendämonen in der menschlichen Gesellschaft inzwischen stillschweigend toleriert würde. Man habe ihre Bedeutung für die Volkswirtschaft durchaus erkannt. Ihr Anteil am BIP, ihre Einträge in das Sozial- und Krankenversicherungssystem seien bedeutend. Das Wichtigste allerdings sei, dass sie zwar in die Krankenkasse einzahlten, aber nie zum Arzt gingen, dass sie ihre Sozialversicherungsbeiträge leisteten, aber niemals Rente bezögen. Dies sei die beste Medizin für die alternde japanische Bevölkerung. »Ich habe gehört«, sagte mein Mann, »dass Katzendämonen bereits mehr als zehn Prozent der japanischen Bevölkerung ausmachen.«
All dies gab mir zu denken, und er redete weiter auf mich ein: »Wie lange könntest du eine Flucht durchhalten? Mit einem Touristenvisum kannst du dich in jedem Land nur ein paar Monate aufhalten. Du fliegst herum und schleppst dich durch ein heimatloses Leben, bis dein japanischer Pass abgelaufen ist. Komm zurück! Wir müssen das neue Jahr doch gemeinsam als Familie feiern.«
Bevor ich das Flugzeug bestieg, resettete ich mein Handy und meinen Laptop und vernichtete alle Bücher, Notizen und Papiere.
Während das Flugzeug sanft in großer Höhe durch die Nacht flog, fragte ich nach einem Glas Sekt und fiel kurz darauf in einen tiefen Schlaf.
Plötzlich befinde ich mich in einem leeren Raum ohne Licht und ohne Möbel, es gibt nicht einmal einen Stuhl. Es ist sehr kalt. Die Luft riecht muffig. Es dauert lange, bis ich merke, dass es Nacht ist. Ich kann mich nicht dazu durchringen, mich auf den nassen Steinboden zu legen. In der Morgendämmerung kann ich erkennen, dass es in der Decke ein kleines, vergittertes Fenster gibt. Ich sehe Stiefelsohlen, die darüber hinweggehen. Dann wird die Tür aufgestoßen, Männer drängen herein. Einer legt eine Handschelle um mein Handgelenk und befestigt sie mit der zweiten Öse an den Gitterstäben. Nun muss ich auf den Zehenspitzen stehen.
Mit sarkastischer Freundlichkeit sprechen sie mich an: »Prinz, Herr Morita! Haben Sie geglaubt, Sie könnten entkommen, weil Sie so reich sind? Das Gegenteil ist der Fall. Sie wären der Letzte, den wir entkommen ließen. Sie sind ein Schwein, das wir lange gemästet haben. Nun ist die Zeit gekommen, Ihr Fleisch zu fressen.«
Abwechselnd fragen sie mich nach meinen Auslandskonten und Passwörtern. Ein paar Mal werde ich ohnmächtig. Und immer wieder reißt mein dummer Lebenstrieb mich in den Schmerz, den Hunger, den Durst und die Todeserschöpfung zurück. Ich weiß nicht, wie viele Tage vergehen.
Schließlich erzähle ich alles und gebe alles preis und flehe erbärmlich um mein Leben. Aber es nützt mir nichts. Der Chef der Folterknechte legt ein süßes Bedauern in seine Stimme und sagt: »Leider lautet Ihr Verbrechen dieses Mal Ausstreuen gefährlicher Gerüchte und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats. Aber seien Sie unbesorgt. Wir werden es schnell zu Ende bringen.«
Unmittelbar danach spüre ich einen heftigen Schlag gegen meinen Nacken. Ich kann hören, wie meine Halswirbelsäule bricht. Sie lachen. »Sieh mal, jetzt hat er sich wieder in eine Katze zurückverwandelt. Was für ein schöner, großer Katzendämon!« Ein scharfes Messer schneidet durch meinen Pelz auf der Stirn. Sie ziehen mir die Haut ab. Ein letzter Schrei entweicht meiner Kehle:
»Toyo Shibata!«
Dies ist mein eigener Name!
In der Flugzeugkabine war es, trotz dröhnender Motoren, ganz still. Die meisten Passagiere schliefen. Leichtfüßig und samtpfotig lief eine Flugbegleiterin durch die Sitzreihen. Sie beugte sich zu mir: »Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte sie freundlich. Ich schnappte nach Luft und konnte mich lange Zeit nicht von dieser Todesangst erholen.
Das war Prinz. Prinz hatte mich gerufen. Prinz war tot.
Ein Katzendämon kann, wenn er stirbt, all seine verbleibenden Credit Points einem anderen Katzendämon übertragen. Dazu muss er dessen Namen nennen. Und der Beschenkte wird alles erleben, was dem Sterbenden widerfährt.
Dies geschieht allerdings selten, da die Nekomatas den Kontakt zu ihresgleichen weitgehend vermeiden und die Namen ihrer Artgenossen im Allgemeinen nicht kennen. Im Lauf der Zeit ist dieses Verfahren daher fast ganz in Vergessenheit geraten. Es schien nur eine theoretische Möglichkeit zu sein, die in den nächtlichen Vorlesungen unserer Lehrer hin und wieder erwähnt wurde. Aber ausgerechnet der naive Itou hatte es uns in einer der Sitzungen in Erinnerung gebracht. Damals hatten wir sehr gelacht. Unsere Demonstration war ja schließlich angemeldet und genehmigt. Ein solcher Vorschlag schien unser Vorhaben nur unnötig zu dramatisieren.
Bei der Ankunft im Flughafen Haneda fehlte mir fast die Kraft, aus dem Flugzeug zu steigen. Meinen Mann sah ich schon von Weitem, und gleichzeitig näherten sich Agenten der Staatssicherheit. Mein Mann nahm mir den Koffer ab und flüsterte: »Pass auf, dass du nicht blutest. Halte zweiundsiebzig Stunden durch. Dann kann ich dich abholen.«
Ich wurde von den Polizisten in einen Raum ohne Licht und ohne Möbel gebracht, es gab nicht einmal einen Stuhl. In der Decke ein kleines vergittertes Fenster. Es war sehr kalt. Die Luft roch muffig. Mein Handy wurde konfisziert. Dann war ich allein. Ich zögerte eine Weile, mich auf den kalten, nassen Steinboden zu setzen.
Stunden später kamen zwei Männer herein. Ohne Vorwarnung bekam ich eine Ohrfeige. »Sag mir die Namen der anderen!« Ich war schockiert. Ich brachte kein Wort heraus. Der Mann holte erneut aus, doch der andere hielt ihm den Arm fest. »Mach ihren schönen Pelz nicht kaputt.« Sie banden mir fachmännisch ein Buch auf die Brust und schlugen abwechselnd mit ihren Schlagstöcken durch das Buch auf mich ein. Ich spürte, wie das Blut aus meiner Brust in meinen Hals einströmte. Bei jedem Schlag hatte ich die Worte meines Mannes im Kopf: »Pass auf, dass du nicht blutest.« Aber schließlich konnte ich es nicht mehr zurückhalten. Ich musste husten und hustete einen ganzen Mundvoll Blut auf den Steinboden, wo es sich türkisgrün mit der schmutzigen Nässe vermischte.
Das letzte, was ich mitbekam, bevor ich das Bewusstsein verlor, war, wie ein weiterer Scherge den Raum betrat und sagte: »Ihr könnt aufhören. Superheld hat alles gestanden.«
Ein scharfes Messer schneidet durch meinen Pelz auf der Stirn. Bei lebendigem Leib ziehen sie mir die Haut vom Fleisch. Ein letzter Schrei entweicht meiner Kehle:
»Toyo Shibata!« Mein eigener Name.
Ein blasses Licht warf die Schatten der Gitterstäbe auf den nassen Steinboden. Ich lag da und fror. Mein Gesicht brannte und ein dumpfer Schmerz lag mir auf der Brust. Aber scheinbar hatte ich keine großen Verletzungen. Tränen flossen mir über das Gesicht.
When I was just a little girl,
I asked my mother, What will I be?
Will I be pretty, will I be rich?
Hübsche-Mutter ist tot. Als sie geboren wurde, muss sie ein süßes Katzenmädchen gewesen sein mit wunderschönen Wünschen für die Zukunft. Ich weiß noch nicht einmal ihren echten Namen.
Ich wusste nicht, warum sie alle mich als Empfängerin für ihre Credit Points ausgewählt hatten. Sollte ich die Einzige gewesen sein, an deren Namen sie sich in der Stunde ihres Todes erinnerten?
Wie versprochen holte mein Mann mich ab und brachte mich sicher nach Hause. Er sagte, es sei ihm gelungen, die Beglaubigung meiner menschlichen Identität durchzusetzen, so dass ich von nun an Menschenrechte besäße und niemand mehr befugt wäre zu überprüfen, ob ich ein Mensch oder ein Katzendämon sei. Aber dieser Trick könne nur ein einziges Mal angewendet werden.
»Wir müssen die Auswanderung in Betracht ziehen. Ich fürchte, nach diesem Trick wird die Staatssicherheit auch mir früher oder später auf den Fersen sein.«
»Gomen nasai.« Ich verbeugte mich vor ihm.
»Du hättest es eigentlich nicht vor mir verbergen müssen. Wenn du schliefst, spürte ich immer deinen großen, flauschigen Schwanz unter der Decke. Ich hatte Angst, du würdest dich von mir zurückziehen, also habe ich dich nie darauf angesprochen.« Wir kuschelten uns auf die Tatami-Matten und schauten aus dem Fenster auf die irren Lichter des nächtlichen Tokio.
»Ich will fleißiger studieren und ein richtiger Mensch werden, damit wir ein Baby bekommen können.« In diesem Moment hoffte ich wirklich, dass all diese Theorien stimmten und ich eines Tages ein echter Mensch werden könnte.
Drei Wochen später, noch in der auslaufenden Ruhe des Jahreswechsels, lag ich auf dem Sofa und las in einem Buch mit dem Titel »Canada’s Family Immigration Guide«, als mein Mann in höchster Eile nach Hause kam, sich nicht einmal die Schuhe auszog, in Schubladen und Schränken nach irgendetwas suchte und mich anherrschte: »Nimm deinen Pass und deinen Laptop, ich bringe dich jetzt zum Flughafen, nach London, nach Berlin, egal, irgendwohin.«
Mit einer Hand am Lenkrad des Toyotas reichte er mir das gesamte Bargeld, das er gerade zusammengesucht hatte. Ich geriet in Panik und versuchte zu fragen, was passiert sei, aber brachte nur »Miau« zustande. Mein Mann erklärt es mir bruchstückhaft. Am Morgen, bei der Teambesprechung, hatte er mitbekommen, dass eine internationale Tierschutzorganisation mit Sitz in London auf ihrer Website eine große Geschichte zu Japan herausgebracht hatte. Demnach sei eine bekannte japanische Schriftstellerin in Wirklichkeit ein Nekomata. Diese Schriftstellerin und die Gruppe, der sie angehört, habe ans Licht gebracht, dass die gesamte politische Führung Japans eine von Bakenekos gesteuerte Clique sei und Japan sich von einer Demokratie in ein von Verschwörern diktiertes Land verwandelt hätte. Des Weiteren wurde berichtet, dass sowohl die Schriftstellerin als auch die übrigen Mitglieder der Gruppe verhaftet und möglicherweise bereits hingerichtet worden seien.
Mein erster Gedanke war: Das ist nun endgültig mein Todesurteil.
»Wie können die Leute aus London darüber Bescheid wissen? Hast du jemals mit jemandem darüber gesprochen?«
Da fiel mir Yamada ein, mein Freund bei Reuters. Er hatte mir damals, als ich noch in Neuseeland war, geholfen, einen Asylantrag bei dieser Organisation, die sich WARP nannte, einzureichen. Monatelang hatten wir auf eine Antwort gewartet, aber es war nichts gekommen.
Jetzt ahnte ich, warum. Diese Leute hatten einfach darauf gewartet, dass ich eines Tages nach Japan zurückkehren musste, um dann die große Nachricht von meiner Verhaftung und das Geheimnis, das wir entdeckt hatten, mit großem Trara auszuposaunen, und so die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich zu ziehen.
»Zumindest gibt diese Organisation auf ihrer Website nicht eindeutig an, wer diese japanische Schriftstellerin ist, oder?«
»Doch. Dein Name steht seit Tagen fett in der Headline gleich auf der ersten Seite: Toyo Shibata. Und nicht nur das: Sie veröffentlichen dein neuestes Werk als Fortsetzungsroman auf der Hauptseite. Ein Kapitel pro Tag und direkt daneben die IBAN ihres Spendenkontos. Sie sind jetzt bei der zwanzigsten Folge.«
»Aber wie kann das sein? Ich habe ihnen die Veröffentlichungsrechte nicht gegeben und mein Verlag ganz bestimmt auch nicht. Das ist ganz einfach schamloser Diebstahl.«
»Allerdings! Aber es lohnt sich für sie. Bis vor zwanzig Tagen kannte kaum jemand diese Organisation. Aber jetzt, seit sie deinen Roman veröffentlichen, ist ihre Aufrufstatistik in die Höhe geschnellt. Ihre Leserschaft hat sich vertausendfacht. Das war es wahrscheinlich, was sie wollten. Und wir müssen davon ausgehen, dass die hiesigen Behörden und insbesondere die Staatssicherheit ebenfalls Bescheid wissen.«
»Das ist viel mehr als Diebstahl. Das ist Mord!« Ich bin schon ein hübscher Mantel aus Katzenpelz. In diesem Moment beherrschte mich nicht mehr nur die Angst vor dem Tod, sondern auch eine tiefe Enttäuschung. Zum ersten Mal in meinen 300 Lebensjahren hegte ich große Zweifel an der akademischen Laufbahn eines Katzendämons. Warum nur war es das ultimative Ziel unserer jahrhundertelangen Bemühungen, endlich ein echter Mensch zu werden? Die Menschen sind gemeine, schamlose, hässliche Lebewesen. Ich kann es gar nicht verstehen!
»Das stimmt. Es ist Mord.« Mein Mann seufzte. »Und nicht nur du bist in Gefahr. Es wird zu einem weiteren Massaker an den japanischen Katzendämonen führen.«
Wir erreichten Tokio-Haneda. Er begleitete mich zur Sicherheitskontrolle und schob mir meinen Koffer. Sein Gesicht war fahl wie Asche, als hätte ihn seine ganze Kraft verlassen. Mir selbst ging es ähnlich.
Vielleicht werde ich in der nächsten Minute mit einem elektrischen Schlagstock niedergeschlagen, in einen Müllsack gesteckt und unter den Blicken fremder Reisender vom Flughafen weggeschleppt. Wenn das passiert, kann ich nur noch beten, dass ich nicht allzu grausam getötet werde.
Als ich vor der Sicherheitskontrolle anstand, sah ich, wie der Bordkoffer des alten Herrn vor mir geöffnet wurde und ein Nerzmantel zum Vorschein kam. Nach kurzer Inaugenscheinnahme durfte er ihn wieder einpacken. Eilig ging er davon. Es war nichts passiert. Wie im Traum schaffte auch ich es durch die Sicherheitskontrolle und schritt durch die von Luxusgeschäften gesäumte Halle, zum Gate und dann ins Flugzeug.
Als ich in London ankam, entschuldigte sich Yamada immer wieder bei mir, obwohl er mit der Sache eigentlich nichts zu tun hatte. Mehrmals rief er das Büro der WARP an. Aber kaum, dass er anfing unsere Beschwerde vorzutragen, wurde aufgelegt. Da ging er persönlich hin, aber jedes Gespräch wurde ihm verweigert. Er sagte mir, er habe am Ende nur noch um eine Entschuldigung ersucht, aber selbst das wurde ihm verweigert.
Yamada meinte: »Früher, bei unseren nächtlichen Vorlesungen, als wir in den Geräuschen des Himmels, des Windes und der Bäume den Weisheiten unserer Lehrer lauschten, hörte ich immer, dass wir uns voneinander fernhalten sollten, um sicher unter den Menschen leben zu können. Aber jetzt frage ich mich, ob wir nicht besser daran täten, die Menschen zu meiden. Sie sind Monster.«
Ich checkte in einem kleinen Hotel nahe dem Hyde Park ein. Das Zimmer war so eng, dass ich mich kaum umdrehen konnte. Nachdem ich mich eingerichtet hatte, nahm ich endlich den Mut zusammen und klicke auf die Website der WARP.
Diese sogenannten Philanthropen setzten immer noch Nachrichten über Toyo Shibata auf ihre Hauptseite, die wie eine billige Supermarkt-Werbung gestaltet war. Auch der Roman wurde weiter fortgesetzt und war inzwischen beim siebenundzwanzigsten Kapitel angelangt. Zu meiner Überraschung und zu meinem Entsetzen war aber nicht ich die Autorin dieses Romans! Es handelte sich um einen Krimi in einem sanften und melancholischen Stil mit dem Titel »Fading Sorrow«, den ich als Autorin von Liebesromanen nie hätte schreiben können. Schnell hatte ich erraten, wie es zu dieser Verwechslung hatte kommen können. In Hokkaido lebte eine Schriftstellerin mit demselben Namen wie ich. Dieser Roman war eindeutig ihr Stil. Obwohl ich sie noch nie persönlich getroffen hatte, verfolgte ich dennoch ihre Arbeit wegen unserer Namensgleichheit mit einer gewissen Aufmerksamkeit. In diesem Jahr standen sogar zwei unserer Bücher gemeinsam auf der Bestsellerliste. Mein Buch auf Nummer eins und ihres auf Nummer zwei. Nachdem ich das ihre gelesen hatte, dachte ich sogar, dass sie besser schrieb als ich. Die Leser haben einfach einen schrecklichen Geschmack.
Ich schrie und stöhnte allein in dem kleinen Raum: »Ach, ach, ach! Das darf nicht sein! Habe ich sie schon umgebracht?« Ich konnte nur hoffen, dass sie keine Nekomata war. Aber eigentlich sind die meisten Schriftsteller Nekomatas, so wie fast die Hälfte der US-Präsidenten Iren sind. Mit zitternden Händen klickte ich auf ihre Website, ihren Blog, ihren Facebook-, Twitter-, Instagram-Account. Ich war wie ein Stalker, der versucht, die Situation einer unbekannten Person zu analysieren. Dass sie seit zehn Tagen keine Updates mehr gepostet hatte, war ein alarmierendes Zeichen.
Die Mitarbeiter der WARP hatten nicht nur selbstsüchtig und unmoralisch gehandelt, sondern auch miserabel recherchiert. Und wenn meinem Mann und mir diese Verwechslung schon vorher aufgefallen wäre, hätten wir zumindest versuchen können, sie zu retten.
In Japan hatte ein neues, viel größeres, geheimes Massaker begonnen. Die Behörden töteten gezielt alle Katzendämonen, die an diesen Ereignissen beteiligt waren und ebenso alle, die davon wussten. Und wie ich hörte, hatte sich die WARP bereit erklärt, den japanischen Behörden gegen gute Bezahlung alle IP-Adressen zur Verfügung zu stellen, die Nachrichten über Toyo Shibata abgerufen hatten. So war es den Agenten der Staatssicherheit ein Leichtes, die verdächtigen Individuen ausfindig zu machen. Diejenigen, die als Katzendämonen identifiziert werden konnten und gelegentlich die Worte »die meisten japanischen Politiker sind von Bakenekos besessen« gelesen hatten, wurden umgebracht und massenhaft zu Pelzdecken verarbeitet.
Natürlich stand auch ich, die andere Toyo Shibata, auf ihrer Todesliste.
Zwei Monate später verabschiedete ich mich von Yamada und flog in die Schweiz. Ich blieb drei Monate dort, dann ging ich nach New York, drei Monate später nach Dänemark, dann nach Irland … Ich wusste nie, wohin ich als Nächstes gehen könnte, und eigentlich hatte all dies keinen Sinn. Mit meinem Touristenstatus erhielt ich keine Arbeitserlaubnis, so dass ich nie einen dauerhaften Aufenthalt in einem Land bekommen konnte. Ich reiste durch die Welt und hielt mich versteckt und alles wäre in dem Moment zu Ende, in dem mein japanischer Pass seine Gültigkeit verlor.
Während ich mit meinem Koffer an Bahnsteigen stand, an Flughäfen verweilte, in einem Hotelzimmer meinen Koffer einpackte und ihn in einem anderen wieder auspackte, übte ich immer und immer wieder dieses Lied: Que será, será, que será, será …
Ich schaute jeden Tag in unserer alten Facebook-Gruppe vorbei. Die gute Nachricht war, dass ich den Tod von Itou nicht miterlebt hatte, was ich so interpretierte, dass er noch am Leben war. Ich sehnte mich nach dem Tag, an dem der kleine Anwesenheitspunkt neben seinem Avatar wieder grün würde. Er wird meine Facebook-Signatur sehen: »Ich schulde dir noch ein Lied. Jederzeit singe ich es dir gerne vor.« Es wird ihn freuen. Ich werde ihm dieses Lied vorsingen. Ich werde ihm helfen, Japan zu verlassen und im Ausland ein neues Leben zu beginnen. Er ist noch so jung. Sein Leben als Nekomata hat gerade erst begonnen. Auch seine Frau und seine Kinder sollen mit ihm fliehen.
Aber was könnte ich tatsächlich tun, wenn dieser Tag kommt? Ich wusste ja nicht einmal, wo ich mich selbst morgen niederlassen könnte. Das Ablaufdatum meines Passes rückte langsam näher. In Wirklichkeit war ich überhaupt nicht in der Lage, ihn zu beschützen. Ich war auch nicht in der Lage, irgendeinen der Nekomatas zu beschützen, die demnächst getötet werden würden. Ich hasste mich jedes Mal, wenn ich daran dachte.
Vorerst blieb mir nichts anderes übrig, als mich weiter an verschiedene internationale Tierschutzorganisationen zu wenden, auch an die IAFH in Los Angeles und an die AfTiE in Köln, bei der ich mich schon vor langer Zeit gemeldet hatte. Ich brauchte einen Status, der es mir ermöglichte, für längere Zeit im Ausland zu bleiben, um zu überleben. Ich bat sie, nicht nur mich zu unterstützen, sondern auch einen Weg zu finden, all den Katzendämonen zu helfen, die von dem derzeitigen Massaker unmittelbar betroffen waren. Von London aus tat auch Yamada alles, was in seinen Möglichkeiten stand. Aber er war auf diese Organisationen nicht gut zu sprechen. Einmal hatte er zu einem von diesen Tierschutzorganisationspräsidenten gesagt: »Sie haben so schön geredet, als ich Sie interviewte und Sie die Gelegenheit hatten, Ihre Erfolgsgeschichten zum Besten zu geben. Aber jetzt, wo so viele Tiere getötet werden, vergehen Monate und Jahre, ohne dass Sie einen Finger krumm machen. Haben Sie mir vielleicht Märchen erzählt? Haben Sie vielleicht das ganze Geld, das Sie durch Ihre Spendenaktionen eingenommen haben, in die eigene Tasche gesteckt?«
Vielleicht geschah es aufgrund von Yamadas Intervention, dass eine dieser Organisationen, nämlich die AfTiE, mich unter ihre Fittiche nahm. Doch bald wurde mir klar, dass Yamada möglicherweise ins Schwarze getroffen hatte.
Sie brachten mich in einer undichten Wohnung in Köln unter. Von den Wänden und der Decke fiel regelmäßig der Putz ab, und als ich die immer größer werdenden Schimmel- und Feuchtigkeitsflecken an den Wänden betrachtete, überlegte ich, in den Ecken Gemüse und Kartoffeln anzubauen. Einmal wurde ich von einer Mitarbeiterin der AfTiE aufgefordert, mit meiner Unterschrift die Mietzahlung zu bestätigen, die sie für mich leisteten: 1100 Euro pro Monat. Gelegentlich traf ich auch den Vermieter, der Kontrollen im Haus durchführte und der mir versicherte, dass er nicht mehr als 450 Euro Warmmiete für die Wohnung bekomme. Den Aufenthaltsstatus, den ich dringend brauchte, habe ich von der AfTiE nie erhalten.
Aber es war in dieser Wohnung mit dem ständigen Geräusch von tropfendem Wasser, wo ich den Tod der anderen Toyo Shibata erlebte. Sie wurde nicht sofort nach ihrer Verhaftung getötet, sondern monatelang in einer dunklen Zelle festgehalten. Da sie eine Berühmtheit war, ging man etwas vorsichtiger mit ihr um. Das hielt die Vollzugsbeamten jedoch nicht davon ab, sie täglich zu schlagen und zu quälen. Als sie einmal zu einer Buchvorstellung gehen musste, um sich ihren Lesern zu zeigen, wurde sie geschminkt und neu eingekleidet. Sie wurde von Polizisten in Zivil zu der Veranstaltung gebracht und anschließend zurück ins Gefängnis transportiert. Wie eine Maschine musste sie einen vorbereiteten Text Wort für Wort aufsagen und war gezwungen, sich im Fernsehen öffentlich zu entschuldigen.
»Ich entschuldige mich«, sagte sie, »dass ich in letzter Zeit Gerüchte verbreitet habe. Ich erkläre nun öffentlich, dass es Katzendämonen nicht gibt. Sie existieren in der Fiktion des Autors und nirgendwo sonst.« Jedes Mal, wenn sie beim Sprechen den Mund öffnete, zerrte die Haut an den mit Creme und Puder übertünchten Wunden.
Nach den Tritten und Schlägen gefiel es den Schergen, sie auf dem Boden festzuhalten, ihr nasse Tücher über Mund und Nase zu legen und Wasser ins Gesicht zu schütten. Jedes Mal fühlte sie sich, als würde sie ertrinken. Ihre Lungen zogen sich zusammen, ihre Gliedmaßen zuckten und die immer gleichen Fragen der Polizisten drangen in ihre Ohren: »Welchen ausländischen Medien hast du davon erzählt? Sag uns jeden einzelnen Kontakt.« Für die Folterknechte war es ein Spiel.
Wenn sie endlich allein auf dem Boden ihrer Zelle lag, erlebte sie manchmal den Tod anderer Katzendämonen. Wegen ihres Namens – meines Namens – wurden immer wieder Credit Points auf sie übertragen und auch die Qualen dessen, der gerade starb. Auf diese Weise muss sie wohl von meiner Existenz und von der Ursache der Katastrophe erfahren haben.
Ihr Tod war ein Unfall. Einmal gossen sie etwas zu viel und etwas zu lang Wasser auf ihr Gesicht und ihr Leben entschwand. Im letzten Moment rief sie in Gedanken unseren gemeinsamen Namen.
»Toyo Shibata, lebe. Lass diesen Namen alle Schmerzen wert sein.«
Ich wünschte, es gäbe einen Zauber, der es allen Mördern auferlegt, die Verzweiflung und den Schmerz beim Tod ihrer Opfer selbst zu erleben. Ohne Zögern wäre ich bereit, ihn anzuwenden, selbst wenn ich dafür alle Tabus brechen und die schrecklichsten Strafen erleiden müsste. Stellen Sie sich vor, wie die Herren von der WARP in diesem Moment am Nachmittagstee nippten und sich an den hohen Besucherzahlen auf ihrer Website und den sprudelnden Spenden erfreuten.
Toyo Shibata, es tut mir so leid! Ich weiß nicht, wie ich in dieser furchtbaren Welt voller Menschen weiterleben soll.
In meiner AfTiE-Wohnung in Köln hatte ich einen netten Nachbarn, Ahmad, ein Flüchtling aus dem Iran. Er brachte mich auf die Idee, mich an einer deutschen Universität zu bewerben. »Dann bekommst du immerhin ein Studentenvisum und kannst nach dem Abschluss versuchen, einen Job zu finden.«
Tatsächlich wurde ich an der Universität des Saarlandes im Fachbereich Germanistik zum Studium zugelassen. Ich zog nach Saarbrücken und begann ein Bachelor-Studium. Alles war wie im Traum. Ich plante, nach meinem Abschluss einen Job zu finden und vielleicht könnte ich dann eine Niederlassungserlaubnis in Deutschland bekommen. In der Zeit wäre ich wirklich in Sicherheit und müsste nie nach Japan zurückkehren.
Als Nicht-Muttersprachlerin mit einem Bachelor-Abschluss in Germanistik ist es allerdings fast unmöglich, in Deutschland einen Job zu finden, aber ich hatte ein anderes Ziel gefunden. Ich werde mich in einem Tierheim bewerben, und zwar im Bertha-Bruch-Tierheim neben dem Deutsch-Französischen Garten. Immerhin beherrsche ich die Katzensprache, was sehr konkurrenzfähig ist.
Es lief wie geplant. Sieben Jahre später hatte ich eine unbegrenzte Aufenthaltserlaubnis in Deutschland. Aber wie schwer und mühsam sind diese Jahre gewesen! Ich lebte nicht wie eine unabhängige Katze, sondern wie ein Hund, der von morgens bis abends mit dem Schwanz nach seinem Herrn wedelt. Jede Nacht schreckten mich Albträume aus dem Schlaf, in denen mein Sachbearbeiter bei der Ausländerbehörde sagte: »Leider kann ich nichts mehr für Sie tun. Sie müssen Deutschland verlassen.«
Ich schirmte mich ab von Trauer und Hoffnung und gewöhnte mir an, gefühllos zu leben. So habe ich diese sieben schrecklichen Jahre überstanden. Bei der Arbeit summte ich immer und immer dieses dumme Lied und ging meinen Kolleginnen damit auf die Nerven.
Es gab einen Freiwilligen in unserem Tierheim, der eigentlich Musikwissenschaft studierte und auch in der JVA als ehrenamtlicher Vollzugshelfer arbeitete. Einmal sagte er zu mir: »Weißt du, im Gefängnis mache ich mit den Häftlingen Musik und ich habe entdeckt, dass Gefängnismusik immer sehr einfache Melodien hat, weil die Räume klein und leer sind, wozu nur einfache Melodien passen. Es ist genau wie diese Melodie, die du oft summst.«
Früher hatte ich immer nur klassische Musik gehört und besonders Konzerte mit großem Orchester genossen. Seit wann war diese einfache Melodie das Einzige, was ich im Kopf hatte, und seit wann konnte ich die Musik, die ich früher so geliebt hatte, nicht mehr ertragen? Der Kollege, der sich so gut mit Musik auskannte, sagte, das sei ganz normal. In der Enge der Unfreiheit gehöre reichhaltige Musik zum Unangenehmsten, was man sich denken könne.
Als ich in dieser dunklen, feuchten und unmöblierten Zelle eingesperrt war, als ich den Tod anderer wieder und wieder erlebte, als ich keine Ahnung von der Zeit hatte und mich fragte, ob ich jemals wieder herauskommen würde, konnte ich nichts anderes tun, als dieses Lied zu summen.
Eines Tages, damals in Köln, in der Abenddämmerung, nachdem ich an einem Tag den Tod von drei fremden Katzendämonen aus Japan hintereinander erlebt hatte, stürzte nach tagelangem Dauerregen die halbe Decke meiner AfTiE-Wohnung herab. Da packte mich eine intensive Angst, dass ich unter Menschen leben musste, in einer Welt voller Menschendämonen. Ich ging bei strömendem Regen allein zu Fuß zum prächtigen Kölner Dom. Die Abendglocken läuteten. Die Krähen flogen in alle Richtungen. Ich schaute auf die Spitze des Doms, die in den Himmel ragte. Ich hatte viele Fragen, die ich dem Gott der Menschheit stellen wollte. Aber ich war vollkommen sprachlos. Lange saß ich auf den Stufen des Doms und summte das Lied wieder und wieder.
When I was just a little girl,
I asked my mother, What will I be?
Will I be pretty, will I be rich?
Wer bin ich? Warum bin ich da? Ich weiß nur, dass ich meine Zelle nie verlassen habe und auch heute noch dort bin.
Mein Mann rief mich an dem Tag an, an dem ich meine Niederlassungserlaubnis erhielt. Seit der Razzia bei mir darf er das Land nicht mehr verlassen. Wir haben uns schon lange damit abgefunden, dass wir uns in diesem Leben nicht mehr sehen werden. Er gratulierte mir: »Mein Kätzchen, du bist endlich frei. Du musst nicht mehr befürchten, wieder ins Gefängnis zu müssen. Komm nie wieder zurück nach Japan. Die Welt ist so groß, genieße sie und tu, was du willst.«
Doch wie könnte ich jemals wirklich frei werden?
Nach langer Zeit tauchte Altkrähe auf Facebook auf. Ich war ganz aus dem Häuschen. Ich fragte: »Geht es dir gut?«
»Zum Glück lebe ich noch.«
»Möchtest du mir erzählen, was passiert ist? Kann ich etwas für dich tun?«
Er tippte eine kryptische Antwort: »Ich war schon fast tot … oops … darf ich nicht sagen, darf ich nicht sagen … sonst bin ich wirklich tot.« Danach antwortet er nicht mehr auf meine Fragen. Stattdessen begann er, die politischen Ansichten der japanischen Behörden zu loben. Er wiederholte, was Haruki von sich gegeben hatte, und fügte einen großen Absatz devotester Wertschätzung hinzu, rief die Welt auf, aufmerksam zu sein und hielt besonders Harukis Eintreten für eine Erhöhung der Militärausgaben für eine fantastische Idee.
Superheld ist danach auf Facebook aufgetaucht. Er postet täglich, um verschiedene Küchenartikel zu verkaufen, und ist offenbar an einer Art Schneeballsystem beteiligt.
Tatsächlich ist das Massaker nie zu Ende gegangen. Vielleicht hat es auch nie begonnen, sondern war seit jeher da. Immer noch erlebte ich den Tod anderer Katzendämonen. Ich weiß nicht, warum mir all diese Fremden ihre letzten Credit Points und den Schmerz ihres Todes schickten. Vielleicht taten sie es, weil sie alle aufgrund der Lektüre der Website über Toyo Shibata starben. Yamada meinte, dieser Name sei zum Symbol für die Erbsünde des Massakers geworden, eine Legende des Widerstands und der Niederlage. Und ich vermutete, das Rufen meines Namens im verzweifelten Moment des Todes könnte zu einem Ritual geworden sein. Wahrscheinlich wussten sie nicht, wie sehr mich das belastet!
Sie wussten auch nicht, wie sehr es mich ehrt.
Als ein Nekomata, der dazu bestimmt ist, Tausende langer Jahre allein zu bleiben und nur zu versuchen, zu überleben, fühlte ich zum ersten Mal meine wirkliche Verbindung zur Welt, eine allgegenwärtige und nahe Verbindung. Solange es noch einen Katzendämon im Gefängnis gibt, bin ich auch dabei. Ja, langsam begann ich zu verstehen, warum Itou so dumm war, sich um Fremde zu kümmern. Als Katzendämon können wir es nicht vermeiden, während unseres ganzen Lebens, in dem wir gejagt werden, unter dem Schmerz der Einsamkeit zu leiden. Dennoch dürfen wir es nicht als gegeben ansehen, dass wir allein in der Welt sind.
Ich besprach mit Yamada, dass ich nach Japan zurückkehren wolle, um den verbliebenen Katzendämonen zu helfen und so viele wie möglich aus dem Land zu bringen. Er riet mir davon ab und redete mir zu, zu warten, bis ich wirklich sicher sei. Aber wann wäre ich wirklich sicher? Selbst wenn ich eines Tages eine Deutsche wäre, würde ich doch immer eine Katze bleiben. Mein Blut ist grün.
»Vielleicht, wenn du ein echter Mensch wirst?«
»Tja. Glaubst du tatsächlich an diese Theorie?«
»Ich glaube überhaupt nicht an diese Theorie. Außerdem ist sie völlig unlogisch. Wenn wir jeden Tag unsere Credit Points verdienen, können wir Tausende von Jahren weiterleben. Aber wenn das Endergebnis unserer Mühen darin besteht, wirklich menschlich zu werden, dann werden wir bald sterben. Die menschliche Lebenserwartung liegt bei höchstens hundert Jahren. Ich habe nie verstanden, warum dies das Endziel unseres Studiums sein soll.«
»Außerdem«, fügte er hinzu, »glaube ich nicht, dass wir dann in Sicherheit wären. Die Menschen jagen ja nicht nur uns Katzen. Ebenso schlachten sie Menschen ab. Seit der Homo sapiens die Neandertaler und den Homo floresiensis ausgerottet hat, geht das Massaker immer weiter. Rasse, Religion, Nationalität, politische Ansichten – sie finden immer einen Grund.«
Dennoch begann ich, häufig zwischen Japan und Deutschland hin- und herzufliegen. Ich verwandelte mich in verschiedene menschliche Gestalten und fälschte Dokumente. Unzählige Male kam ich nach Tokio-Haneda, ließ mich von der Security abtasten und durchleuchten und beobachtete mit angehaltenem Atem, wie die von mir begleiteten Katzendämonen die Sicherheitskontrolle passierten. Jedes Mal dachte ich an diesen Tag, als mein Mann mich zum Flughafen brachte, als er mir hastig alles Bargeld zusteckte, das er bei sich hatte, als er mir hinterher schaute und ich allein diese kurze Strecke zurücklegte, bei der es um Leben und Tod für mich ging.
Zu meinem Erstaunen ist die Welt noch nicht durch die Gräueltaten der Menschen zerstört worden, und die Pogrome gegen Katzendämonen und andere Fremde haben nie aufgehört. Und dann begleitete ich einen alten, trauernden Nekomata, der Matsumoto hieß. Er hatte den Pelz seiner Frau zurückgekauft und wollte es tatsächlich riskieren, ihn nach Deutschland mitzunehmen.
Ich bin schon fast durch die Sicherheitskontrolle, als ich sehe, wie Matsumotos seinen Bordkoffer öffnet und ein Nerzmantel zum Vorschein kommt. Es ist eigentlich kein Nerzmantel, sondern ein Katzenpelz. Das weiß ich ganz genau.
Die Polizei kommt von allen Seiten wie aus dem Nichts. Der alte Herr lässt sich zu Boden fallen, noch bevor es zu elektrischen Schlagstockhieben kommt. Aber sie treffen ihn hart und oft und schon fließt sein grünes Blut auf den glatten, glänzenden Flughafenboden wie eine grüne Wiese, die in der hellen Frühlingssonne wild aufwächst. In dem Gewühl wird meine Stirn zweimal getroffen und eine feurige Flüssigkeit fließt über mein Gesicht.
Ich weiß, dass ich als Nächstes in einen Müllsack gesteckt und unter den Blicken fremder Reisender vom Flughafen weggeschleppt werde. Wenn das passiert, kann ich nur noch beten, dass ich nicht allzu grausam getötet werde. Obwohl ich das Sterben so vieler anderer Katzendämonen miterlebt habe, zittere ich vor Angst, dass mein langes Leben nun zu einem abrupten Ende kommt, und vor dem Unbehagen, nicht zu wissen, wohin ich nach dem Tod gehen werde.
Zwei Polizisten beugen sich zu mir herunter. Feuriges Blut läuft mir über das Gesicht. Grünes Blut wäre Grund genug, mir meinen Pelz abzuziehen.
Plötzlich zieht der weibliche der beiden Polizisten ein Bündel Taschentücher hervor und drückt es fest auf die Wunde an meiner Stirn. »Mein Dame, es tut mir leid, dass Sie verletzt wurden. Es war ein Unfall. Verstehen Sie? Ein Unfall. Die Sanitäter werden gleich hier sein.« Sie spricht in einem liebevollen Ton, als wäre ich ein Mensch. Noch benommen von dem Schlag sehe ich die Papiertücher, die sie mir auf die Stirn gedrückt hat. Sie sind von einer roten Flüssigkeit durchtränkt. Ist das menschliches Blut?
Bin ich ein echter Mensch geworden? Toyo Shibata, bist du wirklich kein ängstlicher Katzendämon mehr? Bist du ein echter Dämon, ein feiges, böses, grausames Wesen geworden, nach deiner langen akademischen Karriere, nachdem so viele Katzendämonen dir einen Teil ihres Lebens geschenkt haben? Diese Belohnung ist für mich völlig unverständlich.
When I was just a little girl,
I asked my mother, What will I be?
Ich liege sprachlos auf dem kalten Boden des Flughafens und lasse mich von Menschen sanft behandeln. Es ist die intensivste Beleidigung, die ich in den über 300 Jahren meines Lebens je verspürt habe.