3 Gedichte von Wei Sun

Tragen

Einen Rucksack trage ich,

da ich mein Heim verlor.

Eine leereWasserflasche trage ich,

da ich den Wein meiner Hochzeit verlor.

Eine Menge Bücher trage ich immer bei mir,

obwohl ich meine Sprache verlor.

Ich verlor meinen Schreibtisch,

meine tippenden Finger,

meine Zunge.

Ich verlor meine Katze,

meinen uralten Garten,

meineGeliebten,

das Grab meiner Großmutter.

Ich verlor neunzehn Straßen,

eine Stadt,

einen Fluss

und ein Land.

Nur ein Lächeln habe ich noch,

das ich immer versuche,

aber manchmal vergesse

zu tragen.

Eine Kastanie

Auf das Trottoir

fallen Kastanien.

Eine erwischt mich.

Im kleinen Schmerz

war einmal jemand,

der mich jahrhundertelang liebte.

Ich weiß aber nicht mehr,

wie alles endete.

War es ein Windhauch

oder ein Abschied am Flughafen

Kastanien fallen.

Ich ernte eine.

Man sagt mir,

sie sei bitter,

sie sei giftig.

Das glaube ich nicht.

Eis

Der See erstarrt zu Eis.

Die Luft erstarrt zu Sonnenschein.

Die Landschaft erstarrt zu einem Spiegel,

in dem ich mich nicht spiegele.

In DER HAHNEPETER: Zeitschrift für Prosa und Poesie in Hannover, Ausgabe 6- Frühjahr, Hannover, 2023, S.29.